Menschlichkeit in Zeiten großer Verbrechen
Verantwortung übernehmen
Lesedauer: 5 Minuten
Nutzen: ein Aufrüttler, kollektives Morden nie wieder zuzulassen und für Demokratie einzustehen
Wodurch entsteht Rechtsradikalismus?
„ … Tanja? Wodurch entsteht Rechtsradikalismus? …“ Bedrückt und sprachlos bin ich, als mir eine Facebook-Freundin diese Frage stellt. Und ehrlich gesagt: ich bin auch überfordert. Nicht nur etwas. Sondern komplett. Mit solch‘ großen Themen hatte ich nicht gerechnet, als ich ‚lapidar‘ einen Aufruf gestartet hatte, mir doch eine Frage zu stellen, die ich aus meiner psychologischen Expertise heraus beantworten wollte.
Rechtsradikalismus? Das ist nicht einfach mal so in einem Blogbeitrag beantworten …
„Wodurch entsteht Rechtsradikalismus?“ Diese Frage lässt sich definitiv nicht einmal kurz, im BLOG-Nebenbei beantworten. Zu groß, zu komplex ist das Thema. Es beschäftigt viele Forscher. Seit vielen Jahren. Jahrzehnten. Auf der ganzen Welt. Und ganz ehrlich gesagt, traue ich mich daher auch nicht, eine Antwort zu geben.
Wege in den Rechtsextremismus
Der Politikwissenschaftler Reiner Becker hatte für das sog. BIKNetz einen großartigen Leitartikel über „Wege in den Rechtsextremismus“ geschrieben. Diesen könnt Ihr HIER nachlesen. Er gibt eine gute Ahnung davon, was alles dazu führen kann. Das sogenannte BIKNetz war von 2012 -2015 ein bundesweites Informations- und Kompetenznetz zur Unterstützung der präventiv-pädagogischen Arbeit gegen Rechtsextremismus und wurde dann in Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit überführt.
Rechts – Rechtsaffin – Rechtsorientiert oder gar Rechtsextrem?
Im Artikel erklärt Reiner Becker den Unterschied zwischen den Begrifflichkeiten, die im Alltag oft wild durcheinander und ohne Differenzierung benutzt werden. Von Rechtsextremismus (Rechtsradikalismus) wird dann gesprochen, wenn sich die innere Einstellung zeitgleich auch im Verhalten zeigt. Sprich das, was die Menschen in Hanau erleben mussten. Und an anderen Orten, die ich hier nicht alle erwähnen kann. Auch wenn ich den Opfern gerne einen Platz geben würde…
„ … Im Kern handelt es sich (bei Rechtsextremismus) um die folgenden ideologischen Dimensionen: Nationalismus/Chauvinismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus / Ethnozentrismus, Antisemitismus, Autoritarismus, Pro-Nazismus. Von einer rechtsextremen Einstellung wird dann gesprochen, wenn bei Personen hohe Zustimmungswerte zu den einzelnen oben aufgeführten Ideologieelementen vorliegen: eine Person, die „nur“ fremdenfeindlich ist, ist nicht per se rechtsextrem – allerdings kann mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass eine Person mit rechtsextremer Orientierung auch fremdenfeindliche Einstellungen aufweist. …“ (Zitat Quelle: Kontaktstelle BIKnetz – Präventionsnetz gegen Rechtsextremismus, gsub-Projektegesellschaft mbH, Artikel Reiner Becker, 2012)
Du hast immer die Wahl!
Familie / Herkunft und persönliches Erleben ist KEINE Entschuldigung.
Aktuell lese ich das bewegende Buch von Viktor E. Frankl. „Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“. Ich hatte es bereits während meines Studiums gelesen. Daran habe ich mich aber nicht mehr erinnert, als ich das Buch letztes Jahr nochmals kaufte. Vermutlich war ich damals Ende der 90er noch nicht so weit und konnte nicht erfassen, wie dezidiert Viktor E. Frankl seine Erlebnisse im KZ schilderte. Wie distanziert und gleichsam involviert. Ein Mahnmal für alle nachfolgenden Generationen, es nie wieder so weit kommen zu lassen.
Ein Gedanke im Buch bewegt mich besonders
Nicht, dass die Gewalterfahrung und Demütigung durch das Hitler-Regime alleine schon genug gewesen wäre. Frankl beschreibt die Abstumpfung, Gewalt und Gereiztheit der KZ-Insassen untereinander. Aufgrund der KZ-Bedingungen, der Hoffnungslosigkeit, der gestohlenen Identität. Aber es gab eben auch die anderen KZ-Häftlinge …
„ … der Mensch kann innerlich stärker sein, als sein äußerliches Schicksal, und nicht nur im Konzentrationslager. Der Mensch wird allenthalben mit dem Schicksal konfrontiert und so vor die Entscheidung gestellt, aus seinem bloßen Leidenszustand eine innere Leistung zu gestalten.“. (Zitat, Frankl, Viktor, S. 105).
Oder anders gesagt: du hast immer die Wahl! Du kannst dich entscheiden! Die Entstehung einer rechtsextremen Haltung wird nach gängiger Meinung durch ein Gefühl der Benachteiligung begünstigt. Aber auch Menschen, die sich vom Staat benachteiligt fühlen, werden ja nicht alle rechtsradikal. Denn: sie haben die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden. Nämlich gegen Rechtsextremismus. Gegen das Leid von Millionen Menschen. Gegen das Leid der Toten und Angehörigen von Hanau. 🙁
Du hast die Verantwortung!
Die Geschichte – unsere Geschichte – hat uns gezeigt, wie viel Leid Menschen Menschen zufügen können. … Und komm‘ mir jetzt ja keiner damit, dass er oder sie viel zu jung wäre. Weil er oder sie damals ja noch nicht gelebt und deswegen keine Verantwortung habe. Diese Diskussion kann ich nämlich nicht gelten lassen! Ok. Für das, was an Morden im 2. Weltkrieg passiert ist, dafür tragen die Nachkommen-Generationen sicherlich keine Verantwortung. Aber definitiv dafür, dass es nie wieder so weit kommt. Und so müssen wir uns – und zwar jeder (!) einzelne von uns – dem aufkommenden Rechtsextremismus entgegenstellen. Gemeinsam. Mutig. Freiheitsliebend. Friedensliebend. Sensibilisierend. Aufzeigend von Alternativen. Raus aus der schweigenden Masse. Sichtbar und laut werden. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen für sie einstehen. Tag für Tag für Tag. Demokratie lebt, wenn du sie lebst.
PS – Postskriptum
Schweigst du noch oder zeigst du dich? Falls du schweigst: vor was hast du Angst? Was würdest du tun, wenn deine Familie eines Tages in einem (neuen) KZ sterben würde?
Denk‘ mal drüber nach ….
Neueste Kommentare